Am 28. Juli 2022 wird vor dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe die Revision der Nebenkläger*innen, der Generalbundesanwaltschaft, sowie der beiden Angeklagten Stephan E. und Markus H. gegen das Urteil des Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt zum Mord am damaligen Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke am 01. Juni 2019 und zum rassistisch motivierten Angriff auf den Nebenkläger Ahmed I. am 06.01.2016 verhandelt.
Alle am vorangegangenen Prozess Beteiligten hatten gegen das Anfang 2021 gefällte Urteil Revision eingelegt. Im Falle von Ahmed I. sind sowohl er selbst und sein Nebenklageanwalt Alexander Hoffmann als auch der Generalbundesanwalt davon überzeugt, dass Stephan E. für die Tat verantwortlich ist. Stephan E. wurde vor dem OLG Frankfurt von dem rassistisch motivierten Messerangriff auf Ahmed I. freigesprochen, während er für den Mord an Walter Lübcke für schuldig befunden wurde.
Der Freispruch in diesem Punkt erfolgte trotz zahlreicher Indizien, die in der Gesamtwürdigung für eine Verurteilung hätten ausreichen können: Bei Stephan E. wurde ein Messer gefunden, das von der Art her als Tatwaffe in Frage kommt, mit den Verletzungen, die Ahmed I. zugefügt wurden, zusammenzubringen ist und welches zusätzlich Blutspuren aufwies, die in besonders markanten Merkmalen mit der DNA von Ahmed I. übereinstimmen. Gerade die Beweisführung und -würdigung mit Blick auf das Messer wird von der Nebenklage als lückenhaft und unzureichend eingeschätzt. Auch die Generalbundesanwaltschaft bewertet die Beweisführung und -würdigung im Fall von Ahmed I. als unzureichend. Weiterhin befindet sich der Tatort in der Nähe zum Wohnort und Arbeitsweg von Stephan E.
Ein Alibi für die Tatzeit hatte dieser nicht. E. verübte in der Vergangenheit außerdem mehrere rassistisch motivierte Straftaten. So griff er im November 1992 beispielsweise einen türkischen Imam auf einer öffentlichen Toilette von hinten mit einem Messer an – die Art der Tat ähnelt damit dem Angriff auf Ahmed I. Auch hier war die Tatwaffe von beiden Seiten geschliffen worden – ebenso wie im Fall des gefundenen und als Tatwaffe in Frage kommenden Messers im Fall von Ahmed I. Dies könnte darauf schließen lassen, dass das Messer bewusst bearbeitet wurde, um es als Stichwaffe zu gebrauchen. Zu betonen ist auch, dass Stephan E. ein Motiv hatte: Er hat grundsätzlich eine nationalsozialistische und rassistische Ideologie und Ahmed I. wohnte damals in eben jener Einrichtung für geflüchtete Menschen, über die Walter Lübcke auf einer Bürger*innenversammlung gesprochen hatte.
E. erwähnte von selbst den 6. Januar in einer Vernehmung und gab an, sehr aufgebracht gewesen zu sein wegen der Silvesternacht in Köln. Er sprach davon, Wahlplakate zerstört zu haben und einen von ihm als „Ausländer“ angesehenen Mann angegriffen zu haben. Später sagte E., die Nennung des Datums sei ein Zufall gewesen und er habe den 01.06. gemeint. Auch hat E. einem damaligen Arbeitskollegen von einer Auseinandersetzung am Tatort mit einem Fußgänger erzählt, von welcher man meinen könnte, es handle sich nur um eine abgewandelte Geschichte des Angriffes auf Ahmed I. Es ist auch so, dass sich E. nachweislich intensiv damit beschäftigt hat, wie man politisch motivierte Straftaten verbergen kann.
Als dies zusammengenommen, verwundert es in keiner Weise, dass auch Ahmed I. selbst immer wieder davon spricht, dass all dies kein Zufall sein kann und er Stephan E. für den Täter hält. Entsprechend niederschmetternd war der Freispruch für ihn. Für ihn ist und bleibt die Frage „Woher kommt das Blut an seinem Messer?“ bis heute ungeklärt.
Der Mord an Walter Lübcke soll auch parlamentarisch im Rahmen des Untersuchungsausschusses UNA 20/1 in Wiesbaden aufgearbeitet werden. Im Fokus stehen dabei mögliche Fehler der Sicherheitsbehörden. Auch hier bekräftigte Ahmed I. u.a. bei seiner Aussage im Mai 2022, dass die Nichtverurteilung von Stephan E. für ihn unverständlich bleibt. Oberstaatsanwalt Dieter Killmer, welcher am gleichen Tag aussagte, betonte, dass er ebenfalls bis heute überzeugt sei, dass Stephan E. den Messerangriff auf Ahmed I. begangen habe.
Der SPD-Obmann Günther Rudolph formulierte nach der Untersuchungsausschusssitzung dazu: „Die in der Anklageschrift aufgezählten Indizien sprechen eine klare Sprache: Ein rassistisches Weltbild, eine langjährige kriminelle Vita mit Hang zur Gewalt bis hin zum versuchten Totschlag, eine mögliche Tatwaffe mit DNA-Spuren und ein schwammiges Alibi hätten schon 2016 den Schluss zugelassen, dass die Polizei bei ihrer Befragung von Stephan E. im Wortsinn an der richtigen Tür klingelte. Der Hang zur Gewalt bis hin zum versuchten Totschlag ist bei E. nicht zu übersehen, der auch schon in den 90ern für einen sehr ähnlich begangenen Messerangriff verurteilt wurde. Nahtlos reiht sich der Angriff auf Ahmed I. somit in die kriminelle Vita von Stephan E. ein. Die traurige Erkenntnis des heutigen Tages ist, dass trotz der Befragung von Stephan E. nach der Tat keine weitere Untersuchung durch die Polizei erfolgte.“ (https://www.spd-fraktion-hessen.de/2022/05/06/indizienkette-spricht-klar-fuer-die-schuld-von-stephan-e/)
Ahmed I. hat in der Vergangenheit immer wieder berichtet, dass er von Anfang an auf ein rassistisches Motiv hinwies, als Betroffener und als wichtiger Zeuge aber über lange Zeit weder ernstgenommen noch seine Perspektive gesehen wurde. Vielmehr fühlte er sich oft als Täter, nicht als Betroffer behandelt.
Hermann Schaus, Obmann der Partei DIE LINKE erklärte im Nachgang zur entsprechenden Sitzung dazu u.a, „[…] dass Ahmed I. als Betroffener rechter Gewalt falsch behandelt wurde. Die Richtlinien zum Opferschutz wurden, wenn überhaupt nur spärlich eingehalten. Ahmed I. formuliert, nicht ernst genommen worden zu sein. Das ist ein unhaltbarer Zustand. Betroffene von Gewalttaten müssen dringend die gesetzlich gesicherte Unterstützung erhalten und dürfen nicht allein gelassen werden.“ (https://www.linksfraktion-hessen.de/presse/mitteilungen/detail-pressemitteilungen/luebcke-untersuchungsausschuss-ahmed-i-wurde-von-den-behoerden-allein-gelassen/)
Die Parlamentarier*innen des Untersuchungsausschusses gaben Ahmed I. am Tag seiner Aussage das Zeichen, auch in seinen Fall im Rahmen ihrer Möglichkeiten aufklären zu wollen, zu welchen konkreten Versäumnissen es bei den Ermittlungen kam.
Wichtig bleibt für Ahmed I. bis heute ein aussagekräftiges, gerichtliches Urteil, das den Angriff auf ihn als explizit rassistisch motivierte Tat benennt und die dafür verantwortliche Person zur Rechenschaft zieht. Aus unserer Beratungsarbeit wissen wir: Nur, wenn Betroffene von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt darauf vertrauen können, dass derartige Taten weder gesellschaftlich noch vom Rechtsstaat toleriert werden, sondern aktiv unter Ausschöpfung aller zur Verfügung stehenden Mittel verfolgt und als das benannt werden, was sie sind, kann zuweilen aufgebautes Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen wieder abgebaut und Gerechtigkeitsempfinden wiederhergestellt werden.
Der Ausgang der Revisionsverhandlung mit Blick auf den rassistischen Messerangriff auf Ahmed I. ist für ihn selbst von großer Bedeutung, hat aber auch eine Signalwirkung und geht damit weit über seinen konkreten Fall hinaus: Die Aufklärung der Tat sowie entsprechende Konsequenzen sind unabdingbar, soll das eindeutige Signal gesendet werden, dass die Dimension politisch rechts motivierter und rassistischer Gewalt ernst genommen und ihr entsprechend und entschlossen genug begegnet wird.
Das Statement als pdf herunterladen: Revisionsverhandlung Ahmed I.